Schlangen-Träume

Anfangs war ich ganz enttäuscht,

dass mir dieses sagenumwobene Tier nie als Traumsymbol erschien. Bewertungen, Vergleiche, Erwartungen waren wiederkehrende Themen. Je mehr ich davon im Laufe der Reise ablegte, desto freier war ich auch in der Betrachtung der Träume – es war wichtig was sie zeigten, nicht was ich mir wünschte. Ich ging davon aus, die Schlange sei das Symbol der Weisheit. Das passte zu meiner märchenhaften Vorstellung von Gut und Böse, Schwarz und weiß. In der Pauschalisierung lag eine schnell erreichbare, beruhigende Ordnung der Dinge, die es aber so nicht gab. Während ich die Illusion dieser Ordnung für real ansah, realisierte nicht das zugrunde liegende Gefühl – ein tiefes Bedürfnis nach innerer Ordnung. Die starke Sehnsucht entsprach dem Grad der Unordnung, dem Grad des Chaos. Irgendwann kamen die Dinge wieder an ihren Platz, und ich konnte die natürliche, flexible, kontextgebundene, nicht pauschale Ordnung des Lebens auch als solche empfinden. Alles lebt, auch die Ordnung.

Am Ende war jeder Traum, jede kleinste Erkenntnis ein Teil meiner eigenen Weisheit und ich lernte mühsam aber irgendwann doch, sie nicht pauschal auf andere zu übertragen. Seltsam war es, als mir auf dem Weg dorthin dann tatsächlich ein paar Schlangen begegneten und ich mit dem Symbol nichts anfangen konnte. Ohne die Traumbücher zu durchforsten, sind mir 3 Begegungen präsent. 

Da war ein schöner, wohnlich und offen gestalteter Raum von angenehmer Größe, beginnend bei der Küche. Von dort ging es über zwei flache, recht breite Stufen in das angrenzende Wohnzimmer. Das hier war meine Wohnung wie ich sie mir immer wünschte, ich war hier zum ersten mal, fühlte mich sofort wohl und sah mich um. Obwohl die Schlange fast den ganzen Raum dieses Wohnzimmers einnahm, hatte ich sie zunächst übersehen, stolperte beinahe über sie. Entsprechend ihrer Größe und Dicke klang ihr Viepen eindringlich und unmissverständlich, fast wie eine Warnung. Ich erschrak, aber irgendwie auch in einer angemessener Ruhe, denn sie griff ja nicht an. Solange sie dort lag, war der Raum für mich tabu. Etwas machte meinen Lebensraum, wie ich ihn mir immer gewünscht hatte, unbewohnbar. Er war besetzt.

Bei der nächsten Begegnung waren noch andere Menschen dabei. Irgendwie hatte ich das Gefühl, die Gefahr, die von dem Reptil ausging bezog sich nicht auf mich, sondern auf diese Gruppe von Menschen und ich müsste sie schüzten – und ich allein könnte es auch. Mit dieser ruhenden Riesen-Schlange kannte ich mich aus. Zwar wusste ich, sie ist unberechenbar, doch ich fühlte mich auch als eine Art Dompteur oder Schlangenbeschwörer. So ging ich ganz nah heran und weckte sie dabei ausversehen. Das war jetzt tatsächlich auch meine Schuld. Im Nu baute sie sich auf, überragte mich. Ihr riesiges Maul mit den großen scharfen Zähnen glich dem eines Monsters, ihre Zischlaute gingen mir durch Mark und Bein. Trotz des Schreckens, der offenkundigen Gefahr und ihres scheußlichen Anblicks hatte ich keine Angst um mein Leben. Aber den Traum verstand ich nicht.

Die Schlange als vielschichtiges Symbol. Da ist das zwiespältige Verhältnis zur Wahrheit. Einerseits suchte ich sie, andererseits wich ich ihr aus oder nahm sie nicht entsprechend wahr, wie es trotz der Größe und Aggression möglich gewesen wäre. Traumtechnisch bedurfte es jedoch keiner Wiederholung von Schlangen, die Begegnungen hatten ihren Effekt. Und auch die enttäuschte Vorstellung, dass die Schlange etwas Mystisch-Positives sei, das mit Weisheit oder Besonderheit verknüpft war, hatte anscheinend ausreichend Tiefenwirkung. 

In dem zuerst beschriebenen Traum lag etwas in meinem Lebensraum, aber es löste weder Zorn noch ein Gefühl der Ungerechtigkeit aus. Dort lag etwas, was ich nicht weiter hinterfragte, was ich als gegeben hinnahm und besser in Ruhe ließ. Hier fügte ich mich, wich zurück oder aus, ließ mich still vertreiben. Läge dort die Lüge, etwas Unrechtes, hätte ich wenigstens innerlich protestiert oder andere Emotionen gezeigt. Emotionen, die im Traum ausbleiben sind manchmal eine Wahrheit, die ich leicht übersehe. In diesem Falle hätte ich mich unrechtmäßig behandelt gefühlt, hätte vielleicht versucht etwas zu unternehmen oder mich gewehrt, wäre traurig, verzweifelt oder resigniert, aber es kaum eine Regung dieser Art. Die Schlange hat hier ein Tabu an sich und in meiner Vorstellung bin ich auch darauf angewiesen, dass sie von selbst geht. Doch diese unsichtbare Unordnung kann ich nur selbst in Ordnung bringen. So geht es hier um eine bestimmte Art der Wahrheit, wenn sie in Wahrheit eine Lüge ist. Meine schöne Wohnung im Traum war im Prinzip austauschbar, aber meinen Platz konnte ich auf diese Weise nicht einnehmen. Dieser geistig-emotionale Zustand zog sich durch alle Bereiche des Lebens. Der Zusammenhang war noch nicht wirklich im Bewusstein, aber durch die Träume kam alles von ganz unten in einen Bereich des Möglichen. Der Traum zeigte am Ende auch – mit der Wahrheit kann ich es in nächster Zeit noch nicht aufnehmen.  

Die zweite Begegnung zeigte das Wahrheits-Verhältnis noch auf andere Art. Es hatte etwas mit Neugier und Faszination und erneut mit Fehleinschätzung zu tun. Die Wahrheit interessierte mich durchaus und ich war sicher, ich könnte mit ihr umgehen. Die Schlange aber ließ sich weder vorführen noch zähmen, es war in Wahrheit andersherum. Ich beschreibe sogar, dass ich keine Angst hatte, was mich wundern sollte. Das Tabu wirkte hier nicht. Das Ausbleiben von Angst oder Unruhe war an dieser Stelle Zeugnis, dass ich meine eigenen Vorstellugen pflegte, mir der Ernst der Lage entging. In diesem Punkt sind die Träuem konträr und so ambivalent war letztlich auch das Thema Wahrheit. Die Szene zeigt, dass ich gerne die Wahrheit der anderen meinte. Die eigene interessierte mich durchaus auch – wenn sie händelbar wäre, weder zu groß noch zu klein, weder zu schmerzhaft noch zu langweilig. Einen Sensationsfaktor müsste es schon haben, um sich ihr zu nähern. So wollte ich sie wecken, entdecken, aufdecken, aber erwartete ein bestimmtes, gefügiges, mir gehorchendes Verhalten, das mich zum mutigen Helden macht. Welch leichtes Spiel die Schlange hätte, mich zu verschlingen, realisierte ich nicht.

So hatte ich mein Verhältnis zur Wahrheit noch nie gesehen. Als ich noch nicht wusste, womit ich es zu tun hatte, konnte ich unvoreingenommen die mir allgemein bekannten Eigenschaften der Schlange aufreihen.

Sie ist ein Reptil, also ein altes Wesen mit einer langen Geschichte, unverwüstlich. Mit ihr assoziiere ich Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit. Sie kann sich um Bäume, Tiere oder sich selbst wickeln, Anfang und Ende sind mal klar, mal ineinander verschlungen, sie kann würgen, erdrücken, verletzen, vergiften, töten. Sie ist ein Meister der Tarnung und kann lange ohne Nahrung auskommen. Sie ist ein Kaltblüter  – weder rücksichtsvoll, empathisch, nachsichtig noch gerecht. Sie häutet und verändert sich, ist anpassungsfähig und kann auch das verschlingen, was größer ist als sie selbst. Sie ist, was sie ist. Sie kann auch klein, ungiftig und harmlos sein.

Jahre nach den beiden Träumen und kurz nach der Begegenung mit meiner Schuld, Wahrheit, Lüge oder alles in einem – tauchte die Schlange erneut auf. 

Da war ein Bild in einem Rahmen, eine alte schwarz-weiß Fotografie. Auf dem Bild war eine Lücke in Form einer Schlange zu sehen. Ich konnte sehen, wie die Schlange zurückkam und sich wieder in das Bild einfügte, sie deckte sich exakt mit der dortigen Lücke. Die alte Wahrheit war wieder hergestellt, und „schwarz-weiß“ war hier das Symbol für Vergangenheit.

Die Intention dieses Bildes war mir schon während des Traums klar, als sei es ein luzider Traum. Die Schlange war ein Gemisch aus Schuld, Wahrheit und Lüge, während ich nach den einzelnen Komponenten Ausschau hielt. Die Schlange war etwas, wonach ich gewiss nicht explizit gesucht hätte. Diese Wahrheit war fremdartig, exotisch wie toxisch und hatte alle Zeit der Welt.

2020-09-26T23:29:40+02:00